Teil 3
Urteil 35
Mehrere Geschwindigkeitsüberschreitungen im Verlaufe einer Fahrt stehen auch dann zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit, wenn sie zwar in einem engen zeitlichen Rahmen stehen, jedoch in unterschiedlichen Verkehrs-situationen begangen worden und deshalb unschwer abzugrenzen sind. 25 Abs. 2a StVG findet auf Inhaber ausländischer Führerscheine keine Anwendung.
OLG HAMM
Aktenzeichen: 2 Ss OWi 455/06
Stichworte: Mehrere Geschwindigkeitsüberschreitungen; eine Tat; Tatbegriff; ausländische Fahrerlaubnis; Umfang der Feststellungen
Normen: OWiG 19; StVG 25; StPO 267
Beschluss:
Bußgeldsache
gegen T.K.
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 7. April 2006 hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesge richts Hamm am 15. 08. 2006 durch die Richterin am Oberlandesgericht als Einzelrichterin gemäß 81 a Abs. 1 OWiG nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
- auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Amtsge richt Recklinghausen zurückverwiesen.
G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht Recklinghausen hat den in erheblichem Umfang straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung getretenen Betroffenen, der seinen Hauptwohnsitz in der Slowakei und seinen Nebenwohnsitz in den Niederlanden hat, am 7. April 2006 wegen fahrlässi ger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße in Höhe von 300,00 EUR verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von zwei Monaten verhängt.
Ferner hat es bestimmt, dass das Fahrverbot mit der amtlichen Verwahrung des Führerscheins wirksam wird, spätestens jedoch mit Ablauf von vier Monaten ab Rechtskraft des Urteils.
Das Amtsgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
"Am 28.06.2005 gegen 18.51 Uhr befuhr der Betroffene als Führer des Pkw mit dem Kennzeichen XXXXX, Fabrikat Daimler-Chrysler, die Autobahn A 43 von Recklinghausen in Fahrtrichtung Münster. In Höhe des Kilometers 43 ist dort die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h begrenzt. Der Betroffene fuhr dort eine Geschwindigkeit von 134 km/h. Diese Geschwindigkeit wurde von dem Zeugen Lemke durch Messungen mit dem ProViDa/PPS-System gemessen. Die Messstrecke betrug 300 m, die Messzeit 7,56 Sekunden. Der Betroffene fuhr ungefähr diese Geschwindigkeit weiter, auch nachdem die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben worden war. Er reduzierte die Geschwindigkeit auch nicht, als erneut die Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt wurde. In Höhe des Kilometers 50 auf der Autobahn A 43 fuhr der Betroffene trotz der dort nur erlaubten 80 km/h eine Geschwindigkeit von 160 km/h. Hierbei wurde er wiederum von dem Zeugen Lemke gemessen. Verwendet wurde wiederum das ProViDa/PPS-System. Die Messstrecke betrug 300 m, die Messzeit 6,38 Sekunden. Als der Betroffene angehalten wurde, gab er den Verkehrsverstoß zu."
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, die er unter näheren Ausführungen mit der Verletzung materiellen Rechts begründet hat.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsge richt Recklinghausen zurückzuverweisen.
II.
Die gem. 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist rechtzeitig eingelegt und fristgemäß begründet worden.
Sie hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - Erfolg.
1.
Das angefochtene Urteil ist auf die Sachrüge bereits im Schuldspruch aufzuheben.
a.
Das Amtsgericht ist entgegen der Annahme des Bußgeldbescheides nicht von einer tatmehrheitlichen, sondern von einer tateinheitlichen Begehungsweise ausgegangen und hat den Betroffenen darüber hinaus teilweise freigesprochen. Hierzu hat es Folgendes ausgeführt:
"Beide Messpunkte liegen nur ca. 7 km voneinander entfernt. Alleine das Aufheben der Geschwindigkeitsbegrenzung rechtfertigt nicht die Annahme einer neuen Tat. Es konnte nicht sicher festgestellt werden, dass eine vollständig neue Verkehrssituation vorgelegen hat. Deswegen war in dubio pro reo von einer tateinheitlichen Begehungsweise auszugehen. Insoweit musste der Betroffene teilweise freigesprochen werden."
Es begegnet rechtlichen Bedenken, ob die vom Tatrichter vorgenommene rechtliche Wertung zutreffend ist, dass es sich bei dem dem Betroffenen vorgeworfenen Verhalten lediglich um eine Tat handelt. Nach 19 Abs. 1 OWiG wird nur eine Geldbuße festgesetzt, wenn dieselbe Handlung mehrere Gesetze verletzt, nach denen sie als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann. "Dieselbe Handlung" im Sinne des Gesetzes ist dabei eine einzige Willenbetätigung oder eine natürliche Handlungseinheit. Letztgenannte ist gegeben, wenn mehrere Verhaltensweisen in einem solchen unmittelbaren (räumlichern und zeitlichen) Zusammenhang stehen, dass das gesamte Tätigwerden bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen Dritten (objektiv) als ein einheitlich zusammengefasstes Tun anzusehen ist (vgl. hierzu Beschluss des erkennenden Senats vom 17. Februar 2006 = DAR 2006, 338; vgl. auch OLG Rostock VRS 107, 461; Göhler, OWiG, 14. Aufl., Vor 19 Rdnr. 3).
Dass es sich bei mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen auch im Verlaufe einer Fahrt regelmäßig um mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne handelt, ist soweit ersichtlich einhellige Meinung in Rechtsprechung und Lehre (vgl. hierzu OLG Brandenburg, NZV 2006, 109 m. w. Nachw.). Der Umstand, dass die mehreren Verstöße während derselben Fahrt begangen wurden, ändert nichts daran, dass das Fahren als solches keine rechtliche Klammer zu den einzelnen Fehlverhaltensweisen im Straßenverkehr bildet. Eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit ist lediglich dann anzunehmen, wenn strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich erhebliche Verhaltensweisen durch einen derart unmittelbaren zeitlich-räumlichen und inneren Zusammenhang gekennzeichnet sind, dass sich der gesamte Vorgang bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen unbeteiligten Dritten als ein einheitliches zusammengehörendes Tun darstellt (vgl. OLG Brandenburg,a.a.O.; OLG Hamm VRS 42, 432; 46, 370; OLG Düsseldorf, NZV 1994, 118; 2001, 273; OLG Köln, NZV 1994, 292). Ein derartiger Ausnahmefall ist hier nicht zu bejahen. Zum einen war die Geschwindigkeitsbeschränkung zwischendurch aufgehoben, zum anderen war - abgesehen davon, dass in den Urteilsgründen nicht die Länge des zwischenzeitlich freigegebenen Abschnitts mitgeteilt wird - die Geschwindigkeitsüberschreitung nach immerhin sieben Kilometern bei der zweiten Messung erheblich höher als bei der ersten.
Schon aufgrund dieser Umstände lassen sich die einzelnen Verkehrsverstöße unschwer voneinander abgrenzen und rechtfertigen die Annahme einer tatmehrheitlichen Begehungsweise selbst dann, wenn man zugunsten des Rechtsmittelführers davon ausgeht, dass er die einzelnen Geschwindigkeitsüberschreitungen auf einer nicht durch Pausen unterbrochenen Fahrt und aus einem einheitlichen Motiv heraus beging (vgl. hierzu auch OLG Brandenburg, a.a.O.).
Mehrfache, ineinander übergehende Geschwindigkeitsüberschreitungen werden nur dann bei natürlicher Betrachtung des Gesamtverhaltens des Betroffenen als einheitliche Tat im sachlich-rechtlichen Sinn angesehen werden können, wenn sie auf einer einheitlichen Willensbetätigung des Fahrtzeugsführers beruhen. Eine solche lässt sich regelmäßig nur bei vorsätzlichen Geschwindigkeitsverstößen annehmen, während Fahrlässigkeitstaten wie vorliegend regelmäßig unterschiedliche sachgedankliche Ursachen in der Person des Fahrers haben. Besteht nach dem Inhalt der Entscheidungsgründe des bußgeldrichterlichen Urteils danach kein Anhaltspunkt dafür, dass der Rechtsverstoß des Betroffenen auf gleichartigen Gründen der Nachlässigkeit beruht, ist von tatmehrheitlicher Begehungsweise auszugehen, soweit nicht im Übrigen ein unmittelbarer zeitlich-räumlicher innerer Zusammenhang der einzelnen Verstöße besteht.
Selbst wenn der Betroffene sein Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch hätte beschränken wollen, wofür die Ausführungen in der Rechtsbeschwerdebegründung sprechen, da diese sich ausschließlich mit der Rechtsfolgenseite befassen, wäre diese Beschränkung schon wegen des vorstehenden rechtlichen Mangels des Urteils nicht wirksam gewesen.
Der Teilfreispruch des Amtsgerichts war nicht veranlasst. Zwar hat das Amtsgericht anders als die Bußgeldbehörde in ihrem Bußgeldbescheid nicht zwei Geschwindigkeitsüberschreitungen angenommen, sondern den Betroffenen lediglich wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt. Es hat jedoch die beiden Geschwindigkeitsüberschreitungen als erwiesen erachtet und statt einer tatmehrheitlichen lediglich eine tateinheitliche Begehungsweise angenommen. Unter diesen Umständen war für einen Teilfreispruch kein Raum, der nur bei einem nicht erwiesenen Tatvorwurf in Betracht gekommen wäre (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 11. Mai 2006 in 4 StR 131/06 = www.bundesgerichtshof.de).
b.
Überdies sind die Feststel lungen des Amtsgerichts zur Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung lückenhaft und bieten damit keine hinreichende Grundlage für die Prüfung der Rechtsfolgenentscheidung.
Zwar teilt der Amtsrichter das angewandte Messverfahren mit, bei dem es sich um ein standardisiertes Messverfahren handelt (vgl. hierzu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., 3 StVO Rdnr. 62 a m. w. Nachw.), es fehlen jedoch jegliche Angaben zu dem vorgenommenen Toleranzabzug, insbesondere ob überhaupt ein Toleranzabzug vorgenommen worden ist. Dem Urteil lässt sich nicht entnehmen, ob es sich bei der im Urteil festgestellten Geschwindigkeit um die tatsächlich gefahrene oder um die bereits um den Toleranzwert bereinigte Geschwindigkeit handelt. Dem Senat ist es somit nicht möglich zu überprüfen, ob mögliche Fehlerquellen ausreichend berücksichtigt worden sind. Ohne entsprechende Angaben zum Toleranzwert kann das Rechtsbeschwerdegericht aber nicht beurteilen, ob die vom Tatrichter verhängten Rechtsfolgen zutreffend festgesetzt worden sind. Diese hängen nach Tabelle 1 des Anhangs zum Bußgeld katalog entscheidend vom Ausmaß der vorwerfbaren Geschwindigkeitsüberschrei tung ab, die sich wiederum nach der von dem jeweiligen Messverfahren abhängigen Höhe des jeweiligen Toleranzabzuges bemisst. Bei einer Messung der hier vorliegenden Art mit dem ProViDa/PPS-System ist es, um möglichen Fehlern Rechnung zu tragen, ausreichend, wenn bei Fehlen besonderer Umstände ein Toleranzabzug von 5 % der ermittelten Geschwindigkeit bei Werten über 100 km/h berücksichtigt wird (vgl. hierzu Burhoff (Hrsg.)/Böttger, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2005, Rdn. 1137 mit zahlreichen Nachweisen; vgl. auch OLG Hamm VRS 100,61). Ob dieser Toleranzwert berücksichtigt oder ob rechtsfehlerhaft ein geringerer Toleranzwert abgezogen wurde, kann vom Senat nicht nachvollzogen werden. Die Angabe des Toleranzwertes und der Messmethode war vor liegend auch nicht aus anderen Gründen - wie etwa einem Geständnis des Be troffenen - entbehrlich.
2.
Auch der Rechtsfolgenausspruch erweist sich als fehlerhaft.
a.
Soweit das Amtsgericht Voreintragungen des Betroffenen berücksichtigen will, muss es das Datum der Rechtskraft dieser Voreintragungen mitteilen. Ohne diese Angaben ist es dem Rechtsbeschwerdegericht nämlich nicht möglich, die Tilgungsreife der vorhandenen Vorbelastungen festzustellen, die an das Datum der Rechtskraft anknüpft. Nur solange eine Voreintragung nicht getilgt ist, darf sie verwertet werden. Nach Tilgungsreife und während der Überliegefrist von einem Jahr ( 29 Abs. 7 StVG) bleibt es zwar bei einer Eintragung im VZR, jedoch unterliegt die Voreintragung einem Verwertungsverbot (OLG Hamm VRR 2005, 233).
Durch die Überliegefrist wird nur die Löschung der Voreintragung verhindert, das Verwertungsverbot in diesem Zeitraum bleibt aber bestehen. In der Überliegefrist von einem Jahr kommt es zwar zu einer Hemmung der Tilgung von verkehrsrechtlichen Vorbelastungen. Dies hat aber lediglich zur Folge, dass in dieser Zeit nachträglich bekannt gewordene neue Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten der Tilgung alter Voreintragungen entgegenstehen können, es jedoch andererseits während der Überliegefrist bei einem Verwertungsverbot til gungsreifer Voreintragungen verbleibt (vgl. Beschlüsse des erkennenden Bußgeldsenats vom 26. Mai 2006 in 2 Ss OWi 175/06, des hiesigen 3. Senats für Bußgeldsachen vom 3. Mai 2005 in 3 Ss OWi 228/05 = VRR (Verkehrsrechtsreport) 2005, 233 sowie des 4. Senats für Bußgeldsachen vom 28. März 2006 in 4 Ss OWi 161/06; ferner Senat in einem Vermerk vom 28. November 2005 in 2 Ss OWi 744/05; OLG Karlsruhe zfs 2005, 411; Burhoff (Herausg.)/Böttger, a.a.O., Rdn. 2209; vgl. auch Gübner in VRR 2005, 212 ff.).
Hier enthält das Verkehrszentralregister zwar offensichtlich ausschlie0lich Voreintragungen wegen Straftaten, so dass durch die Angabe des Datums der Entscheidungen zumindest zum Teil auch aufgrund der Strafhöhe darauf geschlossen werden könnte, dass sie noch verwertbar sind. Andererseits wird aber zum Teil weder das Datum der Vorverurteilung noch das abgeurteilte Delikt mitgeteilt.
III.
Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Der Amtsrichter wird zu überprüfen haben, ob die Rechtsbeschwerde zu Recht beanstandet, dass der Betroffene bei Verhängung eines Fahrverbots seinen ausländischen Führerschein in amtliche Verwahrung zu geben habe. Ob der Betroffene Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis ist, teilt das Urteil nicht mit.
25 Abs. 2 a StVG findet aber auf Inhaber ausländischer Führerscheine, die nicht amtlich verwahrt werden, sondern einen Vermerk erhalten ( 25 Abs. 3 StVG), keine Anwendung. Vielmehr greift hier die Vorschrift des 25 Abs. 3 StVG, der bestimmt, dass auf dem ausländischen Führerschein das Fahrverbot vermerkt wird. Es muss aber gewährleistet sein, dass auch einem ausländischen Betroffenen oder einem Betroffenen mit ausländischem Führerschein ein zeitliches Wahlrecht eingeräumt wird. Das kann dadurch geschehen, dass ihm freigestellt wird, wann er (innerhalb von vier Monaten) erscheint oder den Führerschein übersendet, um die Eintragung vornehmen zu lassen, oder dadurch, dass er (z. B. bei sofortigem Erscheinen bei der Behörde oder nach dem Urteil) mitteilt, für welchen Zeitraum er den Eintrag wünscht (vgl. hierzu Albrecht, NZV 1998, 131, 133).
Darüber hinaus merkt der Senat an, dass es ihm verwehrt gewesen wäre zu überprüfen, ob das Vorbringen der Rechtsbeschwerde zutreffend ist, dass nämlich die zulässige Höchstgeschwindigkeit an der zweiten Messstelle nicht auch lediglich 80 km/h sondern 100 km/h betragen hat. Der Senat hätte vielmehr von den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts ausgehen müssen, wonach die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch dort bei 80 km/h lag.
Das angefochtene Urteil war insgesamt aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde an das Amtsgericht Recklinghausen zurückzuverweisen.
Urteil 36
Bei einem standardisierten Messverfahren drängt sich eine weitere Beweisaufnahme auf bzw. liegt diese nahe, wenn konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes behauptet werden.
OLG Hamm
2 Ss OWi 598/06
Beschluss:
Bußgeldsache
gegen S.A.
wegen fahrlässiger Verkehrsordnungswidrigkeit u.a.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Hagen vom 12. Mai 2006 hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 11. 12. 2006 durch den Richter am Oberlandesgericht als Einzelrichter gem. 79 Abs. 5 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 OWiG beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufge-hoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Ent-scheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das
Amtsgericht Hagen zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil wegen fahrlässig begangener Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 100,00 € verurteilt. Zudem hat es wegen ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 12. Juli 2005 ge-gen 10.28 Uhr in Hagen mit seinem Pkw Porsche 911-996 Coupé mit dem amtlichen Kennzeichen XXXXXX die Eckeseyer Straße mit einer Höchstgeschwindigkeit von 83 km/h. Damit überschritt er die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nach Abzug der Messtoleranz von 3 km/h um 30 km/h. Die Messung wurde aus einer Entfernung von 166 m mit einem Laser-Geschwindigkeitsmessgerät der Marke RIEGL LR90-235/P (Seriennummer S. 83696) vorgenommen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat Erfolg. Auf die zulässig erhobene Verfah-rensrüge war das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Betroffene hat mit seiner Ver-fahrensrüge u.a. geltend gemacht, das Amtsgericht habe einen Beweisantrag zu Un-recht nach 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt, mit dem der Verteidiger des Betroffenen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache verlangt hatte, dass das verwendete RIEGL-Messgerät bei der vorliegenden Messdistanz von 166 m mit einer Fehlerquelle behaftet ist, durch welche die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit des Porsche 911-996 Coupé erheblich geringer als die mit dem Gerät gemessene Geschwindigkeit gewesen sein kann.
1.
Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Der Verteidiger stellte für den Betroffenen in der Hauptverhandlung vom 12. Mai 2006 folgenden Beweisantrag:
"Ich beantrage zum Beweis der Tatsache, dass die gemessene Geschwindigkeit nicht der tatsächlichen Geschwindigkeit entspricht und nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine erheblich niedrigere Geschwindigkeit gefahren werden konnte, im Hinblick auf die Bauart des Porsche und die fehlende nicht protokollierte Nullmessung, die Einholung eines Sachverständigengutachtens."
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass bei dem gefahrenen Porsche bei einer Messentfernung von 100 bis 200 m trotz Anvisierung des Kennzeichens die Gefahr bestehe, dass der Laserstrahl an parallel zur Fahrtrichtung ausgerichteten Bauteilen wandere und damit eine zu hohe Geschwindigkeit angezeigt werde, ohne dass das Messgerät eine Fehlmessung ausgebe. Zur Begründung wurde auf die Ausführungen des Sach-verständigen Löhle in dem Fachbuch "Fehlerquellen bei polizeilichen Messverfahren" von Beck/Löhle, 8. Aufl. [2006], S. 50 ff. verwiesen, welches dem Amtsgericht auszugsweise zur Verfügung gestellt worden war.
Die gestellten Anträge lehnte das Gericht durch Beschluss in der Hauptverhandlung nach vorheriger Beweiserhebung durch Verlesung des Messprotokolls und durch Vernehmung der Messbeamten mit folgender Begründung ab, die offenbar auf die Anwendung des 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abzielt:
"Bei der Messung bei einem Laserhandgerät der Marke Riegl handelt es sich um ein allgemein geprüftes standardisiertes Messverfahren. Erhebliche Anhaltspunkte für eine Fehlmessung im vorliegenden Fall ergeben sich nach dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme nicht, so dass das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur weiteren Überzeugungsbildung nicht für geboten hält."
Im angefochtenen Urteil wird zudem noch ausgeführt, dass auch der Umstand, dass die Messentfernung lediglich 166 m betragen und damit erheblich geringer als in weiteren mitgeteilten Messfällen gewesen sei, nicht auf einen Messfehler schließen lasse. Dieser Umstand sei dadurch hinreichend erklärt, dass der Messbeamte nach seinen Angaben das Fahrzeug möglicherweise erst spät erkannt habe. Gegen einen bauartbedingten Messfehler spreche ausschlaggebend die Angabe des als Zeugen gehörten Messbeamten, er visiere allgemein das Nummernschild eines gemessenen Fahrzeuges an. Dies sei auch im vorliegenden Falle so erfolgt, ohne dass das Gerät Messfehler angezeigt habe. Vor diesem Hintergrund habe sich das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung auf fehlerfreie Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens stützen können, da sich bei einer Fehlmessung zwingend Fehlermeldungen hätten ergeben müssen.
2. Diese Begründung trägt die Ablehnung des gestellten Beweisantrages nicht. Für die Handhabung des 77 Abs. 1 Nr. 1 OWiG gelten folgende Maßstäbe:
Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist das Gericht gemäß 77 Abs. 1 Satz 1 O-WiG verpflichtet, die Wahrheit vom Amts wegen zu erforschen. Den Umfang der Be-weisaufnahme hat der Amtsrichter unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache, 77 Abs. 1 Satz 2 OWiG nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. In 77 Abs. 2 OWiG ist für die Beweisaufnahme im Bußgeldverfahren zudem eine über das Beweisantragsrecht der Strafprozessordnung ( 244 Abs. 3 bis 5 StPO) hinausgehende Sondervorschrift normiert. Danach kann das Gericht, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist ( 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Hierzu müssen drei Voraussetzungen vorliegen: Es muss bereits eine Beweisaufnahme über eine entscheidungserhebliche Tatsache stattgefunden haben, aufgrund der Beweisaufnahme muss der Richter zu der Überzeugung gelangt sein, der Sachverhalt sei geklärt und die Wahrheit gefunden und die beantragte Beweiserhebung muss nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur weiteren Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sein (OLG Schleswig SchlHA 2004, 264 f.; KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., 77 Rn. 15 m.w.N.; Göhler/Seitz, OWiG, 14. Aufl., 77 Rn. 11). Damit ist das Gericht unter Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation befugt, Beweisanträge nach 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt (vgl. m.w.N. treffend KK-Senge, a.a.O., 77 Rn. 16; Göhler/Seitz, a.a.O., 77 Rn. 12, 14 und 16). Verletzt ist die Aufklärungspflicht dann, wenn sich dem Gericht eine Beweiserhebung aufdrängen musste oder die-se nahe lag (vgl. zu diesem Maßstab etwa OLG Köln VRS 88, 376; OLG Düsseldorf NStZ 1991, 542 f.; Göhler/Seitz, a.a.O., 77 Rn. 12). Bei der Verwendung eines standardisierten Messverfahrens zum Beleg einer Geschwindigkeitsüberschreitung ist einzubeziehen, dass in diesem Fall nur eingeschränkte tatsächliche Feststellungen erfor-derlich sind (vgl. BGHSt 39, 291 ff. und für Laser-Messverfahren BGHSt 43, 277, 283 f.). Indes wird anerkannt, dass sich die weitere Beweisaufnahme zur Aufklärung bei einer auf ein standardisiertes Messverfahren gestützten Beweisführung aufdrängt oder diese doch nahe liegt, wenn konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes behauptet werden (vgl. so OLG Köln VRS 88, 376 ff.; Göhler/Seitz, a.a.O., 77 Rn. 14; siehe Senat in VA 2006, 193 = zfs 2006, 654). Zu beachten ist ebenso, dass die Anforderungen an den Schuldbeweis im Ordnungswidrigkeitenverfahren selbst keine geringeren sind als im Strafverfahren (vgl. BGH NJW 1974, 2295 f. und Mosbacher, in: Lemke/Mosbacher, OWiG, 2. Aufl., 77 Rn. 3).
Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Ablehnung des Beweisantrages hinsichtlich der behaupteten Fehlerquelle des RIEGL-Messgerätes die Vorschrift des 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG bzw. das Beweisantragsrecht des Betroffenen. Zwar hatte das Amtsgericht bereits die Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens zur Beweisaufnahme herangezogen und zu dessen Einsatz zwei Messbeamte als Zeugen vernommen (vgl. zur Einordnung der Messung mit dem RIEGL-Gerät Senat, a.a.O., m.w.N.). Die Berufung auf ein standardisiertes Messverfahren objektiviert eine Geschwindigkeitsüberschreitung jedoch nur dann ohne weiteres, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für eine Fehlmessung im Einzelfall dargetan werden. Dies ist indes seitens des Betroffenen entgegen der Auffassung des Amtsgerichts erfolgt. Es war für die spezifische Situation eines aus 166 m gemessenen Porsche unter substantiierender Bezugnahme auf Fachliteratur dargelegt, dass eine Fehlerquelle des verwendeten Messverfahrens gerade in der auch vom Gericht angenommenen konkreten Messkonstellation existiert. Die aufgeworfenen Zweifel ergaben sich somit anders als in dem Beschluss des Senats in VA 2006, 193 = zfs 2006, 654 nicht nur aus allgemein behaupteten Fehlerquellen des RIEGL-Gerätes, sondern auch aus seinen tatsächlichen Einsatzumständen.
Das Amtsgericht hat hingegen mit seiner Auffassung, es lägen keine erheblichen An-haltspunkte für eine Fehlmessung vor, seine auch nach 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG fortbestehende Aufklärungspflicht verletzt, indem es sich auf den Standpunkt gestellt hat, dass es die Zweifel an der Tauglichkeit des standardisierten Messverfahrens auf Grund eigener Sachkunde als haltlos verwerfen konnte, obschon diese unter Bezugnahme auf einen anerkannten Sachverständigen substantiiert vorgetragen worden sind. Das Amts-gericht unterstellt hier seine eigene Sachkunde (vgl. auch OLG Jena VRS 108, 371 f.), während es sich nach der dem Tatgericht obliegenden Aufklärungspflicht tatsächlich aufgedrängt hätte, dem konkret und substantiiert dargebrachten Zweifel an der Belastbarkeit der Messung anhand des Beweisantrages nachzugehen, da die Sachverhaltsaufklärung letztlich allein von der Überzeugungskraft des standardisierten Messverfahrens abhing.
Eine Verletzung der Aufklärungspflicht lässt sich auch nicht damit ausschließen, indem von einer besonderen Sachkunde des Amtsgerichts ausgegangen wird: Wenn es sich wie hier nicht um einen alltäglichen Lebensvorgang handelt, der in seinen Folgewirkungen auch von einem Laien erkannt und richtig bewertet werden kann, sondern vielmehr technisches Fachwissen erforderlich ist, das nicht jedem bekannt ist, muss der Richter seine eigene Sachkunde in den Urteilsgründen besonders darlegen (vgl. so OLG Jena, a.a.O..; KK-Senge, a.a.O., 77 Rn. 37). Dies ist hier aber nicht geschehen. So setzt sich das Amtsgericht etwa mit der möglichen Fehlmessung trotz Anvisierung des Kennzeichens in keiner Weise auseinander (vgl. insoweit aus der Rechtsprechung auch schon OLG Naumburg NZV 1996, 419 f. zum erörterungswürdigen Ausschluss des seitlichen Abgleitens des Lasers bei einem Porsche). Vielmehr unterstellt das Amtsgericht lediglich die eigene Sachkunde, indem es ohne Begründung davon ausgeht, dass der behauptete Messfehler zu einer angezeigten Fehlmessung führen müsse, was nach dem in Bezug genommenen Sachverständigen gerade nicht der Fall sein soll.
Damit war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhand-lung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
III.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Bei einer erneuten Rechtsfolgenbemessung wird darauf zu achten sein, dass die Ur-teilsformulierungen nicht den Eindruck erwecken, dass Gericht habe möglicherweise den Rechtsgedanken des Doppelverwertungsverbots im Hinblick auf die "nicht geringfügige Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit" unbeachtet gelassen (vgl. zum Doppelverwertungsverbot im Ordnungswidrigkeitrecht Göhler/König, a.a.O., 17 Rn. 16 und 17 m.w.N).
Ebenso wird das Amtsgericht im Fall einer Verurteilung worauf die Generalstaatsanwaltschaft mit Recht hingewiesen hat Sorge zu tragen haben, dass es ausreichende Feststellungen zu den beruflichen und persönlichen Verhältnissen des Betroffenen trifft, damit das Rechtsbeschwerdegericht zu beurteilen vermag, ob die Verhängung des Fahrverbots wegen besonderer Umstände in den persönlichen Verhältnissen des Be-troffenen eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Tat darstellt. Dies gilt in diesem Fall auch vor dem Hintergrund der Entbindung vom persönlichen Erscheinen (vgl. dazu BayObLG NJW 1999, 2292 m.w.N.). Die erforderliche Aufklärung ist zumindest über eine schriftliche Erklärung des Betroffenen herbeizuführen.